An dieser Stelle scheint es mir nun angebracht, Rogers Gedanken – seine Ausweitung des personenzentrierten Ansatzes auf eine Philosophie interpersoneller Beziehungen zu einem neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft – zu reflektieren. Ihre Übertragung auf die heutige Zeit (im Jahre 2000) in unsere Gesellschaft möchte ich hier ebenfalls kurz anreißen.
Mir erscheinen die humanistischen Gedankengänge Carl Rogers als zutiefst plausibel. Seine Philosophie vom Streben eines jeden Organismus nach einer immer höheren Komplexität, nach einer immer größeren Selbstverwirklichung bzw. Vervollkommnung, ist nicht nur äußerst spannend zu lesen, man kann dieses Phänomen auch selber in vielen Erscheinungen des täglichen Lebens beobachten:
So gedeihen Blumen um so besser, je mehr man sich um sie kümmert, ihnen eine Umgebung verschafft, in der sie buchstäblich aufblühen können. (Rogers arbeitete im Übrigen gern und oft im Garten.)
Ich arbeitete einige Zeit in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Unter den stationär untergebrachten „Patienten“ befand sich die gesamte Bandbreite heutiger psychosomatischer Erkrankungen, es waren aber auch Depressive unter ihnen, sogenannte „Schulversager“, Suizidgefährdete, mißhandelte und mißbrauchte Jungen und Mädchen, sogar Mutisten, Autisten, Epileptiker und auch Eß- bzw. Magersüchtige, um nur einige Beispiele zu nennen. Das multiprofessionelle Team versuchte, soweit dies im Bereich seiner Möglichkeiten lag, diesen Jungen und Mädchen eine Atmosphäre, ein Klima zu schaffen, daß es ihnen ermöglichte, sich zunächst einmal in ihrer neuen Umgebung wohl zu fühlen. Allein schon dieses Klima trug bei manchen „Patienten“ dazu bei, regelrecht – wie im Beispiel mit den Blumen – aufzublühen. Dieses Klima wurde auch in die Therapiesitzungen hineingetragen und von den Therapeuten unterstützt. Deren personenzentrierte „Herangehensweise“ trug ihr Übriges dazu bei, daß sich die „Patienten“ immer mehr öffnen konnten und somit überhaupt erst in die Lage versetzt wurden, ihre Probleme – ich sage an dieser Stelle einmal eigendynamisch – zu erkennen und im positivsten Fall auch zu lösen.
Es ließen sich noch weitere Beispiele finden und nennen, was mir aber an dieser Stelle überflüssig erscheint. Weiß doch jeder für sich selbst zumindest ein paar Beispiele. Überflüssig auch zu sagen, daß die personenzentrierte Gesprächstherapie aufgrund ihrer Erfolges, einschließlich ihrer gesamten Modifikationen, die am weitesten verbreitete Therapieform ist.
An diesen und den in den vorangegangenen Beispielen kann man schon sehr gut erkennen, daß ein Organismus, egal ob klein wie ein Wasserstoffatom, oder groß und komplex wie ein Mensch, immer nach etwas Höherem, Vollkommeneren – nach etwas Positiven – strebt, gibt man ihm denn die Möglichkeit dazu.
Wie verhält es sich mit Rogers Ausweitung des personenzentrierten Ansatzes auf seine Philosophie interpersoneller Beziehungen? – Zu einem neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft? – Hin zu mehr Menschlichkeit?
Der Mensch als ein Organismus, strebend nach Selbstverwirklichung (mit all den durch Lernerfahrungen gewonnenen positiven Eigenschaften, die bereits genannt wurden), befindet sich in einer Gesellschaft / einer Kultur, die, betrachtet man sie ebenfalls als einen Organismus (Und meiner festen Überzeugung nach, ist sie ein Organismus!), ebenfalls nach Vervollkommnung streben müsste – ja sogar muß.
Diese Gesellschaftskultur, (noch) repräsentiert in ihrer überwiegenden Mehrheit der Bürger, ihren Institutionen, ihrer Wirtschaft und Politik, verhält sich jedoch inkongruent, voreingenommen, militant und rigide – also inhuman.
Sie erscheint nicht fähig, neue Erfahrungen, kommend von zumindest einem Teil ihrer Bürger (aus ihrem Inneren), in ihr Selbst- bzw. Gesamtkonzept – ihre Kultur – zu integrieren. Das führt, wie bereits hier beschrieben, zu einer Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung und den neuen Erfahrungen. Sie versucht, weiterhin ihre innere Ordnung aufrecht zu erhalten, um ihre Selbst-Konsistenz zu bewahren. Und dies geht sogar soweit, daß sie sich immer weiter von der Realität entfernt. Denn die Repräsentanten der Gesellschaft bewerten sich in ihrem Verhalten und ihrem Selbstkonzept schließlich selbst, unabhängig von ihrem wirklichen Inneren.
Eben hieraus ergeben sich die angesprochenen negativen defensiven Prozesse den neuen Erfahrungen und neuen Typen von Menschen gegenüber.
Jeden Organismus, der sich so verhält, würde man zumindest als gestört, wenn nicht sogar als krank bezeichnen.
Es müsste also, dem personenzentrierten Ansatz entsprechend, ein neues, positives Klima geschaffen werden. Ein Klima, welches es der Gesellschaft ermöglicht, sich formativ aus ihrem Inneren zu entwickeln. Dieses Klima kann in einer Gesellschaft nicht von außen kommen. Dieses Klima müßte von innen her, durch den Menschen geschaffen werden und sich, gleich einem „Marsch durch die Institutionen“, immer weiter ausbreiten und an Einfluß gewinnen. Dieses Klima (man kann in diesem Fall auch sagen: diese Werteinstellung wie ich sie in den vorherigen Kapiteln beschrieben habe), trägt, wie ihn Rogers beschreibt, z. B. der neue Mensch in sich. Dieser kann, muß und will sich in die Gesellschaft einmischen und einbringen.
Dies würde dazu beitragen, daß sich die Gesellschaft, „zusammengesetzt“ und zusammengehalten als höhere Komplexität durch den Organismus Mensch, zu einem formativen, vollkommeneren und humaneren Gebilde entwickelt. – Und demzufolge würde sich in ihr jeder einzelne Mensch selbst verwirklichen können.
Und es gibt bereits humanere, personenzentrierte Lösungsmöglichkeiten und Szenarien (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981), die zumindest in kleineren Zirkeln und Gemeinschaften bereits erprobt und umgesetzt wurden, bzw. werden:
So beispielsweise die Entstehung von Gemeinschaften in personenzentrierten Workshops. Hier wird dem einzelnen Teilnehmer ein (personenzentriertes) Klima geschaffen, in dem er seine eigenen Entscheidungen treffen kann. Er ist gleichberechtigt, den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber was Planung und Durchführung von Aktivitäten betrifft. Hier wird er sich gleichzeitig seiner eigenen Bedürfnisse, seiner eigenen Stärken und seiner eigenen Macht bewußt – kann also in der Gestaltung seines eigenen Lebens und seines eigenen Umfeldes autonom werden. Trotzdem behalten die Teilnehmer ihr Bewußtsein für den Respekt und die Verbundenheit den anderen Mitgliedern gegenüber aufrecht. Denn die Gemeinschaft des Workshops ist sich bewußt, daß die Wünsche eines jeden Teilnehmers berücksichtigt und respektiert werden müssen. Befinden sie sich doch gemeinsam in einem personenzentrierten Kollektiv, in dem jeder Teilnehmer seine Wünsche und Bedürfnisse einbringen kann.
Dies alles muß in einem manchmal langen und auch mühseligen Prozeß ausdiskutiert werden. „Der Prozeß, der sich dort vollzieht, schließt eine immer offener werdende zwischenmenschliche Kommunikation, ein wachsendes Einheitsgefühl und ein harmonisches kollektives Bewußtsein … ein.“ (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 86 ) Und: „Jeder einzelne versucht die Gelegenheit zu ergreifen, all das zu werden, was er oder sie werden kann. Getrenntsein und Verschiedensein – die Einzigartigkeit, ich zu sein – werden intensiv erlebt. Gerade dieses Charakteristikum individuell ausgeprägten Bewußtseins scheint erst ein gemeinsames Gruppenbewußtsein hervorzubringen. … jeder einzelne (sieht) den Workshop nicht nur als einen Ort (an), wo er persönliche Bedürfnisse befriedigen kann, sondern daß er die Situation aktiv mitgestaltet, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.“ ( s. o. Seite 93f)
Aus diesem Prozeß ergeben sich auch neue persönliche Wertvorstellungen für die Workshop-Teilnehmer. Denn Verhaltensweisen, Lebensformen und Wertvorstellungen, die zuvor lediglich durch Autoritäten wie etwa Kirche, Eltern, Staat und politische Parteien geprägt wurden, werden nun in Frage gestellt. Erleben sie doch in den Workshops, daß (gemeinsam in der Gruppe) erlebte, nicht die außerhalb des Individuums geprägten Werte von Bedeutung für ihre Bedürfnisbefriedigung – ihre Selbstverwirklichung – sind. Die Kriterien für das Fällen von Werturteilen verlagern sich also immer mehr in die Person und werden nicht mehr durch äußere Dogmen überlagert.
„Da der einzelne sich bewußt ist, daß diese Maßstäbe auf ständig wechselnde Erfahrungen zurückgehen, haben sie einen eher vorläufigen als definitiven Charakter.“ (s. o. Seite 98)
Rogers begreift diese personenzentrierten Workshops als gesellschaftliche Experimente, in denen er, zusammen mit den Teilnehmern, versucht, seine Philosophie und Theorie in die Realität (die in den Workshops leider immer noch zeitlich begrenzt ist) umzusetzen.
Da sich diese „Experimente“ als äußerst sinnvoll und produktiv, also formativ, erwiesen haben, bilden sie den gleichen Ansatz zur Lösung von internationalen Spannungen und zum Umgang mit Machthierarchien. (Als historische Beispiele wären die Camp David-Verhandlungen, die Verhandlungen im Nord-Irland-Konflikt und die Verhandlungen zwischen der palästinensischen und der israelischen Führung zu nennen.)
„Das Paradigma der westlichen Gesellschaft lautet, daß der Mensch im Grunde gefährlich ist; deshalb müsse er … belehrt, geführt und kontrolliert werden. Doch unsere Erfahrung … hat gezeigt, daß ein anderes Paradigma für den einzelnen als auch für die Gesellschaft weitaus effektiver und konstruktiver ist. Diese besagt, daß die Menschen, sofern ein geeignetes … Klima vorhanden ist, vertrauenswürdig, schöpferisch eigenmotiviert, tatkräftig und konstruktiv sind … .“ (s. o. Seite 103f) Ebenso verhält es sich, wenn „ … eine Gruppe von Individuen, so antagonistisch oder feindselig ihre Mitglieder auch sein mögen, bereit ist, sich gemeinsam in einen Raum zu versammeln, … (wir wissen), welche Haltungen und Fertigkeiten geeignet sind, die gegenseitige Achtung und Kommunikationsbereitschaft zu fördern, bis die Gruppe schließlich zu einer Gemeinschaft zusammenwächst.“ (s. o. Seite 105)
„Das ist meines Erachtens der grundlegende Beitrag, den wir als humanistische Psychologen mit einer personenzentrierten Philosophie leisten können – wir haben im kleinen Rahmen Arbeitsmodelle geschaffen, deren sich unsere Gesellschaft bedienen kann, sobald sie dazu bereit ist.“ (Rogers, C.: Der neue Mensch 1981; Seite 107)
Welche Bedeutung haben Rogers Gedanken für uns, heute, in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mit seinen ca. 80 Millionen Einwohnern?
Müßig, hier alle negativen Symptome, alle Mißstände in unserer Gesellschaft aufzuzählen. Die verfolgen einen eh ständig in den Medien. Trotzdem hier ein paar aktuelle Beispiele (aus dem Jahre 2000) als (rhetorische) Fragen formuliert, die gleichzeitig zum Nachdenken anregen sollen:
- Warum erhebt sich ein großer Aufstand von Personen des öffentlichen Lebens (vor allem von Politikern) gegen einen Künstler wie Hans Hacke, der als öffentliche Auftragsarbeit ein Objekt entwirft, welches er als humane Gegenantwort auf die Inschrift des Reichs- bzw. Bundestages versteht. Seine Inschrift lautet „Der Bevölkerung“ nicht „Dem deutschen Volke“?
- Warum verschaffen sich Politiker ihre eigenen Moralvorstellungen und setzen sich über Gesetze hinweg, die sie teilweise selbst entworfen haben, denen sie aber doch aufgrund ihres Eides, wie jeder andere Bürger auch, auf jeden Fall verpflichtet wären?
- Warum wurde während der friedlichen Revolution der DDR-Bürger, die „Wir sind das Volk!“ rufend durch die Straßen liefen, deren Aussage mißbraucht, zu einem „Wir sind ein Volk!“ umgekrempelt, nur damit man als regierender Politiker weiterhin für mehrere Jahre „dick im Geschäft“ bleiben und in die Geschichtsbücher eingehen kann?
- Warum bestimmt eine lediglich kleine Elite, was gut für das Volk wäre?
- Warum verstehen Konzernvorstände unter „Unternehmerischer Verantwortung“ heute nur noch Gewinnmaximierung, Fusionierung und Globalisierung und nicht mehr auch eine soziale Verantwortung gegenüber deren Angestellten, den daraus resultierenden Arbeitslosen, der Gesellschaft (die sie schließlich nährt)?
- Warum richtet sich der Papst in seinem „mea culpa“ der katholischen Kirche lediglich an Gott und wendet sich nicht auch direkt an die Menschen wie z. B. die Holocaust-Überlebenden?
- Warum sind Menschen heutzutage nur noch die „Betroffenen“, nicht die „Beteiligten“ ?
Kann man diese Beispiele nicht auch, ohne mich wiederholen zu wollen, als Störung der Selbstwahrnehmung, als Wahrung der Selbst-Konsistenz, als immer weitere Entfernung von der Realität – vom Menschen – verstehen?
Ich denke ja, denn die weiteren Symptome einer (überspitzt formuliert) „dahinsiechenden Kultur“, wie Rogers sie beschreibt, sind auch hier und heute vorhanden. Und somit haben Rogers Gedanken und seine Vision, meiner Meinung nach, auch Gültigkeit für unsere Gesellschaft.
Schluß
Empathie als einfühlendes Verstehen, nichtwertendes Eingehen auf den Menschen begriffen, Kongruenz als Echtheit, Unverfälschtheit als Transparenz der eigenen Gefühle, wie auch anderen Menschen gegenüber begriffen und bedingungslose positive Zuwendung als Wertschätzung, Anteilnahme und Akzeptanz gegenüber jedem Menschen, das sind die Eckpunkte in Rogers Denken. Sie sind es, wenn man sie einem Menschen entgegenbringt, ihm dieses positive Klima verschafft, die es ihm als Individuum ermöglichen, sich zu vervollkommnen – sich selbst zu verwirklichen. Und dies geschieht aus seinem Inneren heraus, denn er besitzt die Möglichkeiten dazu. Dieser personenzentrierte Ansatz und diese Philosophie zieht sich wie ein roter Faden durch Rogers gesamte Arbeit.
Diesen roten Faden habe auch ich versucht, Ihnen hier näher zu bringen. – Ich hoffe, es ist mir gelungen.
Ich hoffe auch, es ist mir gelungen, anhand dieses roten Fadens zu verdeutlichen, wie Rogers Satz, den ich als Titel dieser Domain gewählt habe, zu verstehen ist.
Denn es geht ihm nicht um eine fahnenschwingende Revolution. Kein womöglich noch blutiger Umsturz ist gemeint. Sie geht aus von einem Menschen, der sich dazu bereit erklärt und überhaupt in der Lage dazu ist, personenzentriert zu leben – ja, auszuleben. Und dieser Typ Mensch befindet sich inmitten der Gesellschaft oder besser gesagt, der Bevölkerung und kann immer mehr an Einfluß in (und mit) ihr gewinnen. Gleich einem „Marsch durch die Institutionen“.
Und sollten nicht auch alle so leben oder zumindest diese Einstellung besitzen?!
Deshalb möchte ich hier für mich nur noch abschließend sagen: Die Macht jedem einzelnen Menschen und den Möglichkeiten, die er in sich trägt.